Katja und Eva

Zum internationalen Frauentag stellen wir Euch Katja und ihre Tochter Eva vor. Katja muss jeden Tag stark sein. Denn sie ist alleinerziehend. Wie so viele Frauen in Russland, deren Kind mit einer Behinderung lebt. 

Katja hat eine Theaterausbildung, sie ist von Beruf Schauspielerin. Zuvor hatte sie ein "reiches, kreatives Leben". Katja will nicht ins Detail gehen, sie erklärt nur bescheiden, dass es in diesem Leben sowohl Theaterproben und -aufführungen als auch Dreharbeiten für Kinofilme gab. Dieses Leben endet nicht mit der Geburt ihres Kindes, sondern mit der Diagnose “Angelman-Syndrom”. Auf Englisch gibt es dafür die Bezeichnung “Happy Puppet Syndrome”, auf Russisch “Petersilien-Syndrom”. Aber Katja möchte keine “hartherzigen Begriffe” verwenden. Für sie ist Eva ein geliebtes Kind, keine Puppe, auch wenn sie immer glücklich wirkt.

Während der Geburt verschieben sich bei Eva einige Wirbel. Das Mädchen kann lange Zeit den Kopf nicht selbst halten. Eva isst nur wenig und nimmt sehr langsam an Gewicht zu. Als die Zeit dafür gekommen ist, läuft Eva nicht. Katja denkt, das liege an dem Geburtstrauma. Sie und ihr Mann laufen von Arzt zu Arzt und hoffen, dass ihrer Tochter Massagen helfen. Lange verstehen die Ärzte nicht, was los ist.

Eine genetische Analyse bringt Klarheit. Eva ist jetzt schon anderthalb Jahre alt. Man erklärt ihnen, dass das Kind spezielle Förderung benötige und die Familie alle Kräfte brauchen werde, um Eva zu pflegen. Katja und ihr Mann beginnen sich zu streiten. Es gibt mehr und mehr Meinungsverschiedenheiten. Sie lassen sich scheiden. Jetzt zieht Katja ihre Tochter allein auf.

Ein Kind wie Eva wird in einem von 20.000 Fällen geboren. Das Angelman-Syndrom wird durch einen Chromosomenabbau verursacht - ein kleines Stück eines Chromosoms fehlt, dies führt zu Verzögerungen in der Entwicklung. Nicht alle Kinder mit dem Angelman-Syndrom können laufen. Eva fing vor kurzem damit an - im Alter von sechs Jahren. 

Im Laufe der Zeit hat Eva ihre Lieblingsbeschäftigungen gefunden - das Mädchen reitet gern mit Unterstützung eines Pferdetherapie-Trainers. Und sie liebt das Wasser. Auch die Hydrotherapie beruhigt Eva und verbessert ihre Stimmung. Zudem hilft sie, die Gelenke zu entwickeln. 

Aber all dies wäre nicht genug gewesen, wenn Perspektivy nicht im Leben von Katja und Eva aufgetaucht wäre.

Katja hörte vor etwas drei Jahren das erste mal von Perspektivy bei einem Seminar für Eltern besonderer Kinder. Noch immer erinnert sie sich daran, wie schwierig es am Anfang für sie war, Eva den ganzen Tag im Kindertageszentrum von Perspektivy zu lassen. Aber sehr bald wurde ihr klar, dass es keinen Grund zur Sorge gibt: Das Kind ist in guten Händen. Zuvor hatte Katerina schlechte Erfahrungen mit einem staatlichen Kindergarten gemacht. 

Wenn Eva dort nach Meinung der Erzieher*innen zu aktiv war, wurde sie einfach auf einen Stuhl gesetzt und musste den ganzen Tag sitzen bleiben. Katja sagt, dass sie das durchaus versteht: Es gibt nicht genug Hände, mit Kindern sei es eben nicht immer einfach und die Einrichtungen sind nicht für Kinder mit besonderen Bedürfnissen ausgestattet. Aber sie wollte gern, dass ihre Tochter die Aufmerksamkeit bekommt, die sie für ihre Entwicklung benötigt. 

Bei Perspektivy gibt es Förderung und Fürsorge

katja_und_eva_2_cropped.jpg

Im Kindertageszentrum ist das anders. „Die Erzieher*innen kümmern sich individuell um jedes Kind. Dort gibt es Spezialist*innen und Freiwillige, die mithelfen. Den Kindern wird viel beigebracht, und das mit verschiedenen Ansätzen,” erklärt Katja. Einige Details sind ihr aufgefallen: Die Kinder essen mit einem speziellen Löffel, der in einem Winkel gebogen ist und einen dickeren Griff als gewöhnliches Besteck hat. So ist er bequemer zu halten. Das Zentrum ist so ausgestattet und geplant, dass sich sowohl die Kinder als auch die Mitarbeiter*innen wohl fühlen.

Eva ist ein sehr aktives Mädchen, sie liebt es, sich viel zu bewegen. Im Tageszentrum ist das kein Problem - überall gibt es Geländer. Für Katja ist dies der ideale Ort, an dem sich besondere Kinder entwickeln können. 

Eva wird im Juni sieben Jahre alt. Mit zunehmendem Alter versteht sie immer besser. Mit speziellen Sprachlernkarten hat Eva einige Wörter gelernt, mit denen sie ihre Wünsche und Bedürfnisse ausdrücken kann. 

Als die Corona-Pandemie beginnt, muss das Kindertageszentrum für einige Zeit schließen. Aber Perspektivy kümmert sich weiter um die Kinder: Die Mitarbeiter*innen und Freiwilligen kommen zwei- bis dreimal pro Woche zu den Familien nach Hause. Dafür haben sich die Mitarbeiter*innen in Selbstisolation begeben, um die Kinder und Familien vor Corona zu schützen. 

Die Pädagog*innen verbringen zwei bis drei Stunden mit den Kindern. Für ein so aktives und geselliges Kind wie Eva ist die Beschäftigung mit den ihr vertrauten Erzieher*innen und Freiwilligen besonders wichtig. Eva braucht ständig Abwechslung und neuen Input. In letzter Zeit interessiert sie sich besonders für Musikinstrumente und den Synthesizer. 

Katja und Eva leben zu zweit. Wann immer möglich, hilft Katjas Mutter, aber sie ist schon älter und lebt weit weg. Für sie ist es schwierig, die lebhafte Eva im Auge zu behalten. Derzeit kann sie gar nicht mehr zu ihrer Tochter und Enkelin kommen - sie muss in der Selbstisolation zu Hause bleiben. Für Katja bedeutet Perspektivy die Möglichkeit, ein wenig durchzuatmen, Hausarbeiten zu erledigen und mit neuer Kraft zu Eva zurückzukehren.

Dieser Text ist im Original auf Russisch in dem Online-Magazin philantrophy.ru erschienen.Wir bedanken uns für die Möglichkeit, den Text hier in übersetzter und leicht abgeänderter Form veröffentlichen zu können. 

Spenden

Mit Ihrer Hilfe können wir helfen.
Bitte unterstützen Sie uns.
194375926_4005841706203640_5617318948243979585_n.jpg

Unser Juni-Rundbrief ist da!

In unserem Sommer-Rundbrief 2021 stellen wir einen Artikel aus der "Nowaja Gaseta" vor, der das Leid der Menschen in den russischen Heimen sichtbar macht. Außerdem berichten wir von der Einweihung der Gedenktafel für Margarete von der Borch in St. Petersburg. 

haus_fuer_immer_2020.jpg

Unser Rundbrief ist da!

Im Dezember-Rundbrief berichten wir, wie das Corona-Jahr die Arbeit von Perspektivy in St. Petersburg verändert hat - auf negative, wie auch positive Art und Weise.

20200907_180158.jpg

Vom Heim ins betreute Wohnen

Es ist vollbracht! Sechs junge Menschen aus dem Psychoneurologischen Internat (PNI) in Peterhof konnten kürzlich in zwei Wohnungen umziehen. 

201110201286.jpg

"Das System lebt von alten Vorstellungen"

Ein Interview mit Andrei Saizew, Leiter der Rechtsabteilung bei Perspektivy in Sankt Petersburg, über die Möglichkeiten, mit denen Menschen mit Behinderungen in Russland rechtlich geschützt werden können – und die Grenzen der juristischen Arbeit.

sascha_5_vladimir_telegin.jpg

Sascha führt ein bisschen Krieg

Als Sascha zur Welt kam, waren viele Russen dafür, Behinderte wie ihn liquidieren zu lassen. Doch Russlands Gesellschaft wandelt sich, und Sascha kämpft sich Schritt für Schritt voran - hin zu einem selbstständigen Leben. Eine Geschichte von Benjamin Bidder