Mit einer Behinderung leben in Russland

Menschen mit einem hohen Assistenzbedarf können in Russland an der Gesellschaft kaum teilhaben. Zivilgesellschaftliche Initiativen setzen sich dafür ein, dass sich die Situation verbessert. Mit teilweisem Erfolg. 

Der lange Weg in die Freiheit

Im Jahre 1996 betraten die ersten Perspektiven-Freiwilligen aus Deutschland das staatliche Kinderheim Nummer 4 in dem Örtchen Pawlowsk, unweit von St. Petersburg. Ihnen bot sich ein trauriges Bild. Die Kinder lagen in ihren Gitterbetten. Tagein tagaus starrten sie an die Decke. Sie wurden von den Angestellten des Heimes, den “Sanitarkas”, gewindelt und gefüttert, mehr nicht. Menschliche Zuwendung gab es für sie nicht. Ganz zu schweigen von Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten.

“In Russland ging man in den 1990er Jahren noch davon aus, dass Menschen mit kognitiven Einschränkungen nicht entwicklungsfähig seien”, erklärt Maria Ostrowskaja, die Leiterin von Perspektivy, der russischen Partnerorganisation von Perspektiven. “Man war der Meinung, dass sie keine menschlichen Bedürfnisse hätten, die über Essen und Schlafen hinausgehen.” 

Freiwillige holen die Kinder aus den Betten

Die Freiwilligen fingen an, die Kinder aus ihren Betten zu nehmen. Mit ihnen zu spielen. Gemeinsam spazieren zu gehen. Das machen sie jetzt seit 25 Jahren. Hinzu gekommen sind Freiwillige aus Russland und die Mitarbeiter*innen von Perspektivy. Es hat sich einiges verändert seit dem Umbruch in Russland nach dem Ende der Sowjetunion. Kleine, zivilgesellschaftliche Initiativen wie Perspektivy haben in vielen russischen Regionen das alte Denken herausgefordert, neue Ideen gebracht und einen langsamen, aber stetigen Wandel initiiert.

Ich habe beschlossen, mein Leben in die eigenen Hände zu nehmen.

Sascha Medwedew, lebte früher im Heim in Peterhof

Sascha führt ein bisschen Krieg

Als Sascha Medwedew zur Welt kam, waren viele Russen dafür, Behinderte wie ihn liquidieren zu lassen. Doch Russlands Gesellschaft wandelt sich, und Sascha kämpft sich Schritt für Schritt voran - hin zu einem selbstständigen Leben. Eine Geschichte von Benjamin Bidder. 

Die Einstellungen gegenüber Menschen mit Einschränkungen ändern sich 

“Heute ist man Menschen mit psychischen oder physischen Beeinträchtigungen gegenüber wesentlich aufgeschlossener,” sagt Maria Ostrowskaja. Gab es in den Heimen früher nur Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen, wurde also eine Behinderung als ein rein medizinisches “Problem” betrachtet, das korrigiert werden muss, so arbeiten heute auch Sozialarbeiter*innen in den staatlichen Einrichtungen. Es entwickelt sich langsam ein Konsens, dass Menschen mit Behinderungen gefördert werden sollten, eine eigene Persönlichkeit haben und Respekt verdienen.

Immer noch leben zu viele in Heimen 

Auch wenn sich die Situation heute, 25 Jahre später, für Menschen mit Behinderungen etwas verbessert hat, so leben sehr viele leider immer noch in großen Heimen. Die “Institutionenkarriere” beginnt im Säuglingsheim. Die nächste Station ist das Kinderheim, mit der Volljährigkeit müssen die jungen Erwachsenen in ein sogenanntes Psychoneurologischen Internat, kurz PNI, umziehen. Dort verbringen sie dann den Rest ihres Lebens. In den Wohnblöcke mit den langen, dunklen Fluren lebten im Jahr 2019 mehr als 150 Tausend Menschen in ganz Russland.

Die Heime liegen abgelegen von Infrastruktur und Gesellschaft, an den Rändern von Städten und Dörfern. Dies ist einer der Gründe, warum Menschen mit Behinderungen in der russischen Gesellschaft kaum sichtbar sind. Perspektivy ist seit dem Jahr 2000 im PNI in Peterhof aktiv und hat ein umfassendes Betreuungs- und Beschäftigungsprogramm für die Bewohner*innen aufgebaut. Um die Schocks abzufedern, die mit dem Übergang vom Kinderheim in ein PNI einhergehen, kommt der Übergangsbetreuung die wichtige Aufgabe zu, die Kinder gut zu begleiten. Perspektivy setzt sich zudem in einem Netzwerk mit anderen Organisationen gegen den Bau neuer, riesiger Heimblöcke ein.

Die Familien unterstützen, damit Kinder nicht ins Heim müssen

Ein Grund, warum Eltern ihre Kinder mit einer Behinderung in ein Heim geben, ist, dass sie einem sehr starken gesellschaftlichen Druck ausgesetzt sind. Frauen wird von vielen Ärzten noch geraten abzutreiben beziehungsweise ihre Kinder nach der Geburt in ein Heim zu geben. Unterstützungsangebote, die einen Familienalltag mit einem Kind mit hohem Assistenzbedarf zu Hause ermöglichen, gibt es kaum. Inklusive Schulen und Kindergärten gibt es nur ganz wenige.

Exemplarisch für viele ist das Schicksal der Juristin Tatjana Sorawskaja, die in unserem Film “Heim-weh” portraitiert wird. Sie liebt ihre beiden Kinder. Aber aus Mangel an Unterstützung hat sie sich schweren Herzens entschieden, ihren Sohn Sergej in ein Heim zu geben. Mit dem Familienprogramm von Perspektivy können Eltern mit ihren Kindern zu Hause ein Leben aufbauen und müssen sie nicht in ein Heim geben.

Ein Film über Perspektiven. Tatjana hat sich entschlossen, ihren Sohn in ein Heim zu geben. Denn zu Hause schafft sie es nicht mehr, sich um ihn zu kümmern.

Selbstständig und gut betreut wohnen

Gibt es eine Alternative zu den Heimen? Ja, es gibt sie! Wenn auch noch spärlich gesät. In einigen Städten und Gemeinden Russlands entstehen Projekte des betreuten Wohnens. Hier Leben Menschen mit Behinderungen in einer Wohngemeinschaft zusammen. Perspektivy hat diese Entwicklung maßgeblich mit vorangetrieben.

Gemeinsam mit der örtlichen Kirchgemeinde hat Perspektivy das Haus "Wohnen auf dem Lande in Rasdolje" aufgebaut. Weitere Wohnungen sind in St. Petersburg hinzugekommen. Das ist der Weg, den wir weitergehen wollen. Wir wollen zeigen, dass Menschen ein Leben inmitten der Gesellschaft führen können, in Freiheit und Würde.

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