Sascha führt ein bisschen Krieg

Als Sascha zur Welt kam, waren viele Russen dafür, Behinderte wie ihn liquidieren zu lassen. Doch Russlands Gesellschaft wandelt sich, und Sascha kämpft sich Schritt für Schritt voran - hin zu einem selbstständigen Leben.

Eine Geschichte von Benjamin Bidder 

Am Rand von Sankt Petersburg, an einer stillen Straße, die den seltsamen Namen Saitschij Projesd ("Hasendurchfahrt") trägt, steht ein einziges bewohntes Gebäude, ein vier Stockwerke hoher Riegel aus grauem Beton. Die Einrichtung trägt seit Sowjetzeiten einen sperrigen Namen: "Psychoneurologisches Internat Nr. 3", kurz PNI 3. Vielen Anwohnern der umliegenden Plattenbauten ist ein anderer Begriff geläufiger, sie nennen es Psychuschka, "die Klapse".

In dem Betonblock wohnen so viele Menschen wie in einem mittleren Dorf. In Sechs-Bett-Zimmern, die sich längs der langen Korridore aufreihen, leben 1080 Menschen. 

Einer davon ist Alexander Medwedew, den alle mit seinem Kosenamen Sascha rufen.

"Meine erste Kindheitserinnerung ist diese: Ich bin fünf oder sechs Jahre alt und lebe in dem Kinderheim. Ich habe geträumt, dass ich laufen kann. Ich wache auf, will aufstehen und falle hin. Ich frage, warum, und jemand sagt mir, dass ich nicht laufen kann. Ich frage, wieso, und jemand sagt mir: So bist du geboren."

Bevor Sascha mit 18 in das PNI verlegt wurde, lebte er in einem Kinderheim. Seine Freunde dort erzählten sich Schauergeschichten über das Erwachsenenheim PNI. Die meisten davon waren wahr.

Mehr als 500 solcher Internate gibt es in Russland. 148.000 Menschen leben darin, Erwachsene mit Behinderung, geistig Kranke, aber auch Alte, die sich aus Einsamkeit und Verzweiflung selbst eingewiesen haben. Die meisten der geschlossenen Einrichtungen wurden während der Sechzigerjahre gebaut, an den Rändern der Städte. Gut verborgen von den Blicken der Öffentlichkeit.

Sie öffnen sich nur langsam. Doch hinter den Mauern des PNI Nr. 3 zeigt sich auch, wie die russische Gesellschaft nach sieben Jahrzehnten Kollektivismus den einzelnen Menschen langsam ins Zentrum rückt: oft stockend, manchmal widerstrebend, aber doch ist Fortschritt spürbar.

Als im Jahr 2001 zum ersten Mal Mitarbeiter des deutsch-russischen Vereins Perspektivy die Arbeit im Trakt an der Hasendurchfahrt aufnahmen, teilten sich hundert Bewohner eine Toilette, bis zu 20 ein Zimmer. Heute sind es noch sechs.

Die Mahlzeiten aßen die Bewohner aus Blechnäpfen, viele verließen nicht einmal dafür ihre Betten. Starb einer von ihnen, wurde er durch die langen Korridore getragen, dann die Rampe am Hinterausgang hinunter zu einem niedrigen Schuppen, der Leichenhalle. Die Bewohner gaben ihr den Namen "Schokoladenhaus". Der Tod erschien vielen süß im Vergleich zum Alltag im Heim.

Doch die Dinge sind in Bewegung geraten.

Sascha ist, den Umständen zum Trotz, ein Optimist

Auf Saschas Beinen, die ihn nicht tragen wollen, liegt sein Laptop. Darauf tippt er die Beschwerdebriefe, mit denen er gegenüber den Behörden Rechte geltend macht, seine eigenen und die seiner Mitbewohner. 

Er beendet seine Schreiben mit der Bitte, der Behördenchef möge "alle nötigen Schritte unternehmen", also beispielsweise prüfen, ob die Stadt den Seitenstreifen vor dem Heim nicht doch endlich durch einen für Rollstühle geeigneten Bürgersteig ersetzen kann.

Die erste Antwort auf Saschas Eingabe war höflich gehalten, inhaltlich aber ernüchternd: Die Stadt beschied dem "sehr geehrten Alexander Andrejewitsch Medwedew", bedauerlicherweise sei die Straßenbauplanung abgeschlossen, ein Ausbau der Hasendurchfahrt nicht vorgesehen, "bis zum Jahr 2022 einschließlich". Sascha hat nachgehakt. Der letzte Bescheid fiel günstiger aus: Ab dem Jahr 2017 sei der Bau eines zusätzlichen Fußgängerwegs neben der Fahrbahn möglich.

Sascha ist ein zuversichtlicher Mensch, obwohl er unter widrigen Umständen groß geworden ist. Die Gesellschaft, in die er hineingeboren wurde, wusste nicht viel anzufangen mit Menschen wie ihm. Als die Sowjetunion zusammenbrach, waren 32 Prozent der Russen der Meinung, Menschen wie ihn sollte man besser "liquidieren oder von der Gesellschaft abschotten".

Als Sascha vor einem Vierteljahrhundert auf die Welt kam, war sein Gehirn minutenlang nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Das hatte eine "geistige Rückständigkeit mittleren Grades" zur Folge und eine "infantile Zerebralparese", eine Bewegungsstörung. So haben es Ärzte in seine Akte geschrieben. Seine Mutter verstieß ihn.

Seine Freunde nennen ihn "den Diplomaten"

Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs war es üblich, dass sich russische Eltern von ihren behinderten Kindern gleich nach der Geburt lossagten. Es gibt im Russischen einen eigenen Begriff für diese Kinder: Otkasniki, die Abgelehnten. Grund für die Trennung war manchmal eine schwierige Familiensituation, das Fehlen von Aufzügen in den Mietskasernen oder das Drängen der Ärzte.

Sascha ist Vorsitzender des Bewohnerrats, die anderen im PNI haben ihn gewählt. Seine Freunde haben ihm einen Spitznamen gegeben. Sie nennen ihn "den Diplomaten". Er sagt, oft gehe es zwei Schritte vor und dann wieder einen zurück. Bedauerlicherweise sei es gelegentlich aber auch umgekehrt: ein Schritt vor, zwei zurück.

Der Bewohnerrat hat nur beratende Funktion, keine Macht, dank Saschas diplomatischem Geschick aber etwas Einfluss. Eines der drängendsten Probleme der Heimbewohner war die Sache mit den Aufzügen. Die meisten Internate sind noch heute geschlossene Anstalten. Bewohner dürfen sie nur mit besonderen Passierscheinen der Verwaltung verlassen. 

Im PNI Nr. 3 an der Straße, die Hasendurchfahrt heißt, steht es dagegen allen Schützlingen des Vereins Perspektivy prinzipiell frei, das Gelände zu verlassen und zurückzukehren, wann es ihnen beliebt. Die Wohntrakte aber liegen auf den oberen Geschossen, die rollstuhlgerechten Aufzüge werden nur bis 17 Uhr von mürrischen Liftführern bedient. Die Bewohner baten um Verlängerung, das Heim verwies auf knappe Kassen. Sascha hat einen Kompromiss ausgehandelt: Wer später heimkehrt, kann per Handy einen Liftführer nach Bedarf anfordern. 

"Auch ein Mensch mit Behinderung hat Recht auf Dummheit"

Sascha wirbt dafür, das Modell der Bewohnerräte auf andere Internate auszuweiten. Einmal im Monat lädt ihn der Verein Perspektivy zum Gedankenaustausch ein. Sascha streift dann ein weißes Hemd mit Kragen über. Neben ihm sitzen Aktivisten, Anwälte und Angehörige von Heimbewohnern. Gegenüber nehmen PNI-Direktoren sowie Mitarbeiter aus der Stadtverwaltung Platz. 

Die Juristen des Vereins werben dafür, den Heimbewohnern freizustellen, wofür sie ihr Erspartes ausgeben wollen. Bislang könnten sie nicht mal am Geburtstag "ein paar Flaschen Cola für ihre Freunde kaufen". Die Heimleiter kontern mit dem Verweis, ihre Schützlinge seien gar nicht in der Lage, mit Geld umzugehen. Sie würden "gleich alles für Cola auf den Kopf hauen". Eine Anwältin erwidert spitz, "auch ein Mensch mit Behinderung sollte ein Recht auf Dummheit haben". Ein PNI-Direktor stöhnt, er habe den Eindruck, "dass ihr als Nächstes mit unseren Leuten in den Kosmos fliegen wollt". 

Die Direktoren und Beamten sind Bedenkenträger, die Aktivisten manchmal zu stürmisch. Streit entzündet sich an großen Problemen genauso wie an kleinen, es geht ums Prinzip. Die einen wollen so viel Freiheit wie möglich, die Heimleiter nicht mehr Risiko, nicht mehr Experimente als nötig. Sie haben Karriere gemacht in Apparaten, in denen derjenige als guter Manager gilt, der souveräner als andere so tut, als gebe es in seinem Bereich keine Probleme. Wer als Heimleiter über Missstände klagt, riskiert unangekündigte Überprüfungen. Wer Freiräume zulässt, setzt sich dem Vorwurf aus, die Kontrolle zu verlieren.

"Ich habe beschlossen, mein Leben in die eigenen Hände zu nehmen"

Sascha hat im PNI Nr. 3 an der Hasendurchfahrt über Nacht die Batterien seines elektrischen Rollstuhls aufgeladen und sich am Morgen auf den Weg gemacht in das 30 Kilometer entfernte Stadtzentrum von Sankt Petersburg: 15 Minuten im Rollstuhl entlang der Hasendurchfahrt, 20 Minuten in einem der neuen Linienbusse mit Rollstuhlrampe, schließlich eine halbe Stunde Fahrt mit der Elektritschka, der ratternden russischen Vorortbahn. Wenn die Gesellschaft nicht zu ihm kommt, muss er eben zur Gesellschaft, so sieht Sascha das.

Sascha ist fast immer allein unterwegs. Er will den Eindruck vermeiden, er könnte abhängig sein von einem Begleiter: "Ich habe beschlossen, mein Leben in die eigenen Hände zu nehmen." Wo seine eigenen Hände nicht ausreichen - bei Stufen zum Beispiel -, bittet er um die von Passanten. 

Er spürt dann zwar die überraschten Blicke. Aber er lässt sich nichts anmerken, schon gar nicht seine eigene Aufregung. "Du musst ruhig auf die Leute zugehen", sagt Sascha. "Wenn du selbst Angst hast, spüren sie das und fürchten sich vor dir. Du darfst keine Angst haben." Den Unsicheren erklärt er, wie sie seinen Rollstuhl über den Bordstein wuchten oder eine Treppe hinab. U-Bahn-Fahren ist eine Herausforderung. Sankt Petersburg liegt im Mündungsdelta der Newa, der Boden ist sumpfig, das Metronetz deshalb eines der tiefsten der Welt. Die Rolltreppen sind steil und bis zu 140 Meter lang. 

Die Stadt hat gelbe Plattformen angeschafft, die Rollstühle über die Rolltreppen befördern können. Die Plattformen müssen aber von Metro-Mitarbeitern bedient werden. Als Sascha das erste Mal vor der Rolltreppe auftauchte, bekam er zu hören, sein Ausflug in die Stadt sei ohnehin viel zu gefährlich. Sie würden ihm die Plattform natürlich bereitstellen, sofern er mit einem Begleiter wiederkäme. Sascha ist daraufhin jeden Morgen zur gleichen Metro-Station gefahren, ohne Begleiter, und hat um die gelbe Plattform gebeten. "Ein bisschen Krieg führen" nennt er seine Zermürbungstaktik. Drei Wochen haben ihn die Metro-Leute auflaufen lassen, dann waren sie es leid. Inzwischen stehen sie schon bereit, wenn sie Sascha in seinem Rollstuhl von weitem sehen.

Neue Heime, weniger Bewohner, mehr Hilfe für Eltern

Die Russen sind unbefangener geworden im Umgang mit Menschen, von deren Existenz ein großer Teil der Bevölkerung vor einem Vierteljahrhundert praktisch nichts wusste. Jeder zweite Russe hätte heute nichts dagegen, wenn in der Klasse seiner Sprösslinge gleichzeitig Kinder mit Behinderung unterrichtet werden, gerade einmal fünf Prozent wären dagegen. In Umfragen wird auch noch immer gefragt, wer der Meinung sei, dass Menschen mit Behinderung am besten "liquidiert" werden sollten oder "von der Gesellschaft isoliert". 2015 spielten beide Varianten mit zwei beziehungsweise vier Prozent fast keine Rolle mehr. 

Die Behörden von Sankt Petersburg haben es zu ihrem Ziel erklärt, die großen PNI-Heime Schritt für Schritt zu schließen. An ihre Stelle sollen kleinere Einheiten mit 50 bis 75 Bewohnern treten, Einrichtungen "familienähnlichen Typs", so nennen die Beamten das.

Die Stadt hat begonnen, neue Tageszentren zu eröffnen. Dort werden Kinder mit Behinderung betreut, während die Eltern weiter arbeiten gehen können. Sie sind - sofern sie sich ein Leben mit einem behinderten Kind grundsätzlich vorstellen können - nicht mehr wie früher gezwungen, ihr Kind allein schon deshalb in ein Heim abzuschieben, um den Rest der Familie ernähren zu können. Die Stadt hat die finanzielle Unterstützung hochgefahren, pro Monat zahlt Sankt Petersburg 12.000 Rubel, umgerechnet sind das rund 200 Euro. Das ist viel Geld, das Durchschnittseinkommen liegt bei 43.000 Rubel.

Sascha will ausziehen

Sascha hat sich bei der Sberbank ein Konto einrichten lassen, Russlands größter Bank, und eine Girokarte beantragt. Er geht im Supermarkt einkaufen, besucht Freunde in der Stadt, hat drei Monate einen Computerkurs belegt. Er wolle gern "neue Fähigkeiten entwickeln", sagt er. Mit jeder Hürde, die er nimmt, weitet sich auch sein Horizont. Er träumt davon, eines Tages aus dem PNI auszuziehen und dem System den Rücken zu kehren, in das er geboren wurde. 

Über Jahre galt: Wer einmal in ein Heim gekommen ist, verlässt es erst nach dem Tod. Jekaterina, eine Juristin des Vereins Perspektivy, sucht gemeinsam mit Sascha nach einem Schlupfloch aus dem System. 

Es gibt Beispiele von PNI-Bewohnern, die das Heim verlassen haben, Sascha wäre gleichwohl der erste mit weitgehenden geistigen Einschränkungen und einem Rollstuhl. Die Behörden schrecken davor zurück: Die Stadt hat seinen gemeinsam mit Jekaterina formulierten Antrag abgelehnt, weil die Heimleitung in einem Gutachten schrieb, Sascha sei noch nicht so weit. Er werde überfordert, habe noch immer zu wenig Erfahrung im Umgang mit Geld, drohe bei der erstbesten Gelegenheit von Betrügern übers Ohr gehauen zu werden. Sascha ärgert sich über den Bescheid: Im Heim habe das ja all die Jahre nie jemand mit ihm trainiert. Er hat zweimal gegen die Entscheidung geklagt und beide Male verloren. 

Sascha tippt weiter Briefe auf seinem Laptop. Er bemüht sich, jeden negativen Bescheid schnell abzuhaken, als Zwischenetappe auf dem Weg zu seinem Ziel: der eigenen Wohnung.

In Peterhof, einige Kilometer entfernt vom Heim, hat eine "Trainingswohnung" eröffnet. Je vier Heimbewohner üben hier, was ein selbstständiges Leben von ihnen abverlangen würde: kochen, einkaufen, Geld beisammenhalten - ein Projekt von Perspektivy. Die Stadt hat geholfen, einen Sponsor zu finden, der die Wohnungsmiete übernimmt. 

Drei Monate dauert das Training. Wenn alles klappt, halten die Absolventen am Ende ein Zeugnis in den Händen, das ihnen die Fähigkeit zu einem Leben außerhalb des Heims attestiert. Sascha hat es auf die Warteliste geschafft. Er ist aufgeregt, fürchtet, seine verkümmerte linke Hand könnte ein Problem werden. Es fällt ihm schwer, mit ihr einen Kochtopf zu halten oder nach einer Tasse zu greifen. 

Er hat deshalb begonnen, sie zu trainieren.

Benjamin Bidder, der Autor dieser Geschichte, hat Alexander Medwedew 2001/2002 während seines Zivildienstes mit Perspektivy im Kinderheim in Pawlowsk kennengelernt. Diese Geschichte ist ein Auszug aus seinem Buch "Generation Putin". Sie ist zudem auf Spiegel Online erschienen. Wir bedanken uns für die Möglichkeit, sie hier veröffentlichen zu können. 

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